Unentrinnbare Falle: BGH kontra Große Beschwerdekammer!?

Der BGH hat in der Entscheidung „Winkelmesseinrichtung“ (Xa ZB 14/09) über die Frage entschieden, wie nach deutschem Recht mit der sogenannten „unentrinnbaren Falle“ (Art. 123 (2), (3) EPÜ bzw. PatG & 21 Abs. 1 Nr. 4, Abs. 2 ) umzugehen ist.

Kurz gesagt lässt es der BGH zu, dass ein nicht ursprünglich offenbartes Merkmal im Patentanspruch verbleibt, wenn es zu einer Einschränkung des Patentanspruches führt – vorausgesetzt, der derart beanspruchte Gegenstand ist nicht auf ein Aliud gerichtet. Laut BGH muss in diesem Fall nicht einmal ein Disclaimer aufgenommen werden, der klarstellt, dass aus dem ursprünglich nicht offenbarten Merkmale keine Rechte abgeleitet werden können.

Damit stellt sich der BGH in gewissem Sinne gegen die Rechtsprechung der Großen Beschwerdekammer, die in derartigen Fällen (bis auf wenigen Ausnahmen) nur den vollständigen Widerruf vorsieht (s. auch G93/0001).

Leitsätze der Entscheidung:

PatG § 21 Abs. 1 Nr. 4, Abs. 2

  1. Ein Merkmal, das in den ursprünglich eingereichten Unterlagen nicht als zur Erfindung gehörend offenbart ist und dessen Streichung oder Ersetzung durch ein von der ursprünglichen Offenbarung gedecktes Merkmal zu einer Erweiterung des Schutzbereichs führen würde, kann im Patentanspruch verbleiben, wenn seine Einfügung zu einer Einschränkung gegenüber dem Inhalt der Anmeldung führt.
  2. Eine Einschränkung in diesem Sinne liegt vor, wenn das hinzugefügte Merkmal eine Anweisung zum technischen Handeln konkretisiert, die in den ursprünglich eingereichten Unterlagen als zur Erfindung gehörend offenbart ist.
  3. Um in solchen Fällen sicherzustellen, dass aus der Einfügung des Merkmals Rechte nicht hergeleitet werden, bedarf es grundsätzlich nicht der Aufnahme eines entsprechenden Hinweises („disclaimer“) in die Patentschrift.

Aus den Gründen:

Weder aus § 21 Abs. 1 Nr. 4 noch aus § 22 Abs. 1 PatG kann abgeleitet werden, dass ein Patent stets zu widerrufen ist, wenn sein Gegenstand gegenüber dem Inhalt der ursprünglich eingereichten Unterlagen durch Aufnahme eines darin nicht offenbarten Merkmals eingeschränkt worden ist. Aus den genannten Vorschriften ergibt sich zwar, dass das Gesetz dem Gesichtspunkt des Vertrauensschutzes gegenüber der Öffentlichkeit hohes Gewicht einräumt. Gemäß § 21 Abs. 2 PatG ist diesem Interesse aber schon dann hinreichend Rechnung getragen, wenn ein Verstoß gegen eines dieser Verbote durch entsprechende Beschränkung des Patents rückgängig gemacht wird. In der hier zu beurteilenden Situation kann dies dadurch geschehen, dass das nicht offenbarte einschränkende Merkmal im Anspruch verbleibt, bei der Prüfung der Patentfähigkeit aber jedenfalls insoweit außer Betracht zu lassen ist, als es nicht zur Stützung der Patentfähigkeit herangezogen werden darf. Schon damit ist sichergestellt, dass das Merkmal für die Bestimmung des Schutzbereichs maßgeblich bleibt, der Rechtsbestand des Patents aber nicht auf technische Anweisungen gestützt wird, die in der Anmeldung nicht als zur Erfindung gehörend offenbart sind. Eines Widerrufs des Patents bedarf es in dieser Konstellation folglich nicht.

Der Senat verkennt nicht, dass diese Lösung jedenfalls im theoretischen Ansatz nicht mit der Auffassung der Großen Beschwerdekammer des Europäischen Patentamts in Einklang steht und in Fällen, in denen die Einfügung des Merkmals nicht zur Patentierung eines „Aliud“ geführt hat, zu abweichenden Ergebnissen führen kann. Er vermag der Auffassung der Großen Beschwerdekammer aber jedenfalls für den Anwendungsbereich von §§ 21 und 22 PatG nicht beizutreten. Die Große Beschwerdekammer hat gesehen, dass die von ihr vertretene Auffassung zu harten Folgen für den Anmelder führen kann (aaO ABl. EPA 1994, 541 = GRUR Int. 1994, 842 Rn. 13 – Beschränkendes Merkmal/Advanced Semiconductor Products). Sie sieht sich an einer abweichenden Lösung durch den verbindlichen Charakter von Art. 123 Abs. 1 und 2 EPÜ gehindert. Diesem Gesichtspunkt kommt nach Auffassung des Senats jedenfalls für das deutsche Recht keine ausschlaggebende Bedeutung zu.

Der Wortlaut des Patentgesetzes sieht für den Fall, dass die zur Ausräumung eines Widerrufs- oder Nichtigkeitsgrunds an sich erforderliche Streichung eines Merkmals aus dem Patentanspruch einen neuen Nichtigkeitsgrund entstehen ließe, weder in die eine noch in die andere Richtung eine ausdrückliche Regelung vor. Deshalb ist unter Rückgriff auf allgemeine Auslegungskriterien zu ermitteln, ob die unzulässige Einfügung des Merkmals gemäß § 21 Abs. 1 PatG zwingend zum vollständigen Widerruf führt oder ob den berechtigten Belangen der Öffentlichkeit nicht dadurch Genüge getan ist, dass – wie sich aus § 38 Abs. 2 PatG ergibt – aus der Änderung Rechte nicht hergeleitet werden können. Diese Frage ist aus den bereits angeführten Gründen im zuletzt genannten Sinne zu entscheiden. Auch die Große Beschwerdekammer hält die Belassung eines in den ursprünglich eingereichten Unterlagen nicht als zur Erfindung gehörend offenbarten Merkmals unter bestimmten Voraussetzungen für zulässig. Dies bestätigt nach Auffassung des Senats, dass Art. 123 Abs. 1 und 2 EPÜ diesen Lösungsweg nicht kategorisch ausschließen.

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